Tilo Baumgärtel
Tilo Baumgärtel realisiert seine Bildideen mit der Rationalität eines Bühnenbildners, der stets die Wahrnehmung des Betrachters im Sinn hat. Erstaunlich nüchtern und rational fallt der ehemalige Meisterschüler von Arno Rink kompositorische Entscheidungen. Anhand eines Werkes des niederländischen Barockmeisters Pieter de Hooch verweist er im Gespräch auf die begrenzten Möglichkeiten, den Übergang von einem Interieur in die Landschaft spannend zu gestalten. Die Trickkiste der Kunstgeschichte von der Renaissance bis zur Gegenwart gehört zum täglichen Werkzeug des Absolventen der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Auf der Leinwand wird zuerst der Raum angelegt. Ob er den Betrachter mit der Leere einer Landschaft konfrontiert wie in den früheren Werken, oder ihn mit einer Fülle von Details irritiert wie in den jüngeren Arbeiten, stets siedelt Baumgärtel seine Szenen zwischen Traum und Wirklichkeit an. Die Verschränkung unterschiedlicher Erzählperspektiven, der Kontrast zwischen immaterieller Farberscheinung und scheinbar greifbarer Stofflichkeit oder die Inszenierung des Raumes durch extreme Hell-Dunkel-Kontraste sind nur einige Möglichkeiten seines Repertoires, die Logik des Bildraumes zu brechen und die vermeintliche Schlüssigkeit einer Situation ins Wanken zu bringen. Wir sehen Urlauber, die sich mit futuristisch anmutenden Booten auf die Reise ins Ungewisse machen, Wanderer in unbekannter Mission oder Teenager in schummrigen Interieurs. Stark reduziert gezeichnet sind sie austauschbare Typen,
die jeden individuellen Zug vermissen lassen. Baumgärtels Figuren warten vereinzelt vor weiten Landschaftskulissen oder lehnen schweigend an Wänden. Mal scheinen sie zu lauschen, mal in einer Bewegung innezuhalten, als würden sie in sich
hineinhorchen. Sie stehen ohne erkennbare Handlung im knietiefen Wasser, starren wie imTagtraum an die Decke dämmriger Hotelzimmer oder sitzen versunken am Klavier, ohne zu spielen. Kommunikation findet nicht statt. Baumgärtels
Protagonisten wirken oftmals wie Wesen aus einer fremden Welt. Eine Zeichnung mit einem schlafenden Mädchen, das aus ihrem Bett emporschwebt erinnert an die Bildergeschichten des “Little Nemo in Slumberland” von Winsor McCay, die vor einem Jahrhundert im New Yorker Herald erschienen. Cartoon für Cartoon oder Nacht für Nacht wird Little Nemo aus der Wirklichkeit seines Kinderzimmers in einen fantastischen Kosmos entführt, in denen er zum Zuschauer und Akteur
atemberaubender Abenteuer wird, um dann im Moment gröBter Gefahr in das bürgerlich karge Schlafzimmer zurückgerufen zu werden. Zu eben solchen Passagen zwischen Traum, Albtraum und Realität lädt Tilo Baumgärtel uns ein.
Little Nemo in Sachsenland – die Bildwelt des Tilo Baumgärtel von Nils Ohlsen (in Tilo Baumgärtel – Senzo, Kerber Verlag und Galerie Kleindienst,2006)
Courtesy by Galerie Kleindeinst